Bauaussichten 2022: Warum Klimaneutralität und Bezahlbarkeit in Zukunft zusammen gedacht werden müssen
Von Roland Meißner, Geschäftsführer Bundesverband Kalksandsteinindustrie e. V., Hannover: Weitestgehend geräuschlos und zielorientiert hat die Ampel-Koalition die Weichen für die ökologische, ökonomische und soziale Erneuerung unseres Landes gestellt. Und damit einen neuen Politik-Stil etabliert, der sich positiv vom bislang Gewohnten abhebt. Ebenso erfreulich ist ein Blick in den Koalitionsvertrag, in dem sich viele unserer Forderungen wiederfinden. Mit doppelt so schnellen Genehmigungsverfahren, deutlich mehr Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien, Wegfall der EEG-Umlage und Superabschreibungen für Investitionen in CO2-freie Produktionstechnologien soll die deutsche Wirtschaft zu einem klimaneutralen Industriestandort umgebaut werden.
Rund 40 Prozent der CO2-Emissionen gehen auf den Gebäudesektor zurück. Daraus resultiert eine besondere Verantwortung für die Baubranche. In der Kalksandsteinindustrie hat die klimaneutrale Transformation bereits begonnen. Mit unserer im Jahr 2021 erarbeiteten Roadmap liegt jetzt ein detaillierter Fahrplan vor, der den Weg in die emissionsfreie Kalksandsteinindustrie bis 2045 aufzeigt. Diesen gilt es nun Etappe für Etappe umzusetzen. Um den gesamten Produktlebenszyklus von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling weiter optimieren zu können, werden wir unsere Forschungsaktivitäten 2022 deutlich intensivieren. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Entwicklung alternativer Bindemittel. Denn rund 80 Prozent der uns zugerechneten CO2-Emissionen entstehen nicht in unserem Produktionsprozess, sondern werden durch die Verwendung des Bindemittels Kalk „hinzugekauft“. In den letzten Jahren ist es uns bereits gelungen, den Kalkanteil kontinuierlich zu senken und in Teilen auch zu substituieren.
Die klimaneutrale Transformation stellt die Baubranche vor große Herausforderungen, stimuliert auf der anderen Seite aber auch den Innovations- und Wettbewerbsgeist. So hat das Rennen um das Bauprodukt mit dem kleinsten ökologischen Fußabdruck längst begonnen. Die Kalksandsteinindustrie ist hier gut aufgestellt. Laut aktueller Umwelt-Produktdeklaration (EPD) hat sich die bereits gute Ökobilanz unserer Produkte in den letzten fünf Jahren um weitere acht Prozent verbessert. Nichtsdestotrotz werden wir die weitere Verbesserung der Umweltbilanz und die kontinuierliche Optimierung der Produktionsprozesse gemeinsam mit der Forschungsvereinigung Kalk-Sand e.V. und unseren Mitgliedswerken weiter vorantreiben. Im Austausch mit politischen Entscheidungsträgern stelle ich immer wieder fest, dass in Bezug auf ökologischen Qualitäten von Kalksandstein erhebliche Wissenslücken gibt. Laut einer Studie der Life Cycle Engineering Experts GmbH weist ein typisches Mehrfamilienhaus über einen Lebenszyklus von 50 Jahren nahezu die gleiche Ökobilanz auf – ganz egal, ob es aus Kalksandsteinmauerwerk und in Holzleichtbauweise errichtet wurde. Legt man einen Lebenszyklus von 80 Jahren zugrunde, schneidet das Gebäude aus Kalksandstein ökobilanziell sogar besser ab. Der ökobilanzielle Vorteil resultiert aus der längeren Lebensdauer, der Wärmespeicherfähigkeit des Materials, die zu einem geringeren Heizenergiebedarf führt, sowie der hohen Wiederverwertungsquote von 94 Prozent. Angesichts dieser Tatsachen ist die staatliche Bevorzugung bestimmter Bauweisen durch nichts zu rechtfertigen. Deshalb plädieren wir gemeinsam mit anderen Verbänden der Mauerwerksindustrie für eine faktenbasierte und transparente Nachhaltigkeitsbewertung aller Bauweisen nach einheitlichen Kriterien.
Was vielfach ebenfalls unbekannt ist: Nicht nur Holz, sondern auch Kalksandstein ist in der Lage, CO2 zu speichern. Bei der sogenannten Recarbonatisierung handelt es sich um eine natürliche chemische Reaktion bindemittelbasierter Baustoffe. Das aus der Umgebungsluft aufgenommene CO2 wird dabei fest in das kristalline Gefüge der Kalksandsteine eingebunden und tritt auch bei einem Abbruch des Gebäudes nicht wieder aus. Untersuchungen des Fachbereichs Bau- und Umweltingenieurwesen der Universität Kassel haben gezeigt, dass eine Tonne Kalksandsteinmaterial innerhalb von 50 Jahren rund 50 Kilogramm CO2 aufnimmt. Bei einer Produktionsmenge von acht Millionen Tonnen (2020) entspricht das 400.000 Tonnen CO2. Auf diese Weise werden rund 40 Prozent des bei der Herstellung entstehenden CO2 während des Lebenszyklus wieder gebunden. Damit leistet die Recarbonatisierung einen wesentlichen Beitrag zur Dekarbonisierung der Kalksandsteinindustrie – und dürfte langfristig sogar zu einer positiven Ökobilanz führen. Deshalb wäre es nur folgerichtig, dass der Recarbonatisierungseffekt bei der ökobilanziellen Bewertung des Baustoffs Kalksandstein in Zukunft mindernd berücksichtigt wird.
Auch wenn die Erreichung der Klimaziele ganz oben auf der politischen Agenda steht, ist die Erreichung der Wohnungsbauziele mindestens genauso wichtig. Vor allem in den Ballungsgebieten dürfte sich die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum weiter erhöhen. Angesichts Erstellungskosten, die aktuell bei bis zu 5.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche liegen, müssen klimaneutrales und kostenoptimiertes Bauen in Zukunft zusammen gedacht werden. „Bezahlbarkeit geht immer auf Kosten des Klimaschutzes“ ist ein weitverbreitetes Vorurteil, mit dem ich immer wieder konfrontiert werde. Dabei lassen sich Bezahlbarkeit und Klimafreundlichkeit mit der richtigen Bauweise sehr wohl miteinander verbinden. Mit einem Marktanteil von 38 Prozent ist Kalksandstein der favorisierte Baustoff im mehrgeschossigen Wohnungsbau – und das aus gutem Grund. Laut einer aktuellen Studie der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen e.V. zählen typisierte Gebäude aus Kalksandsteinmauerwerk mit 1.950 € pro Quadratmeter Wohnfläche zu den kostengünstigsten Geschosswohnungsbauten auf dem deutschen Wohnungsmarkt.
Die nächste Bundesregierung hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Bis 2025 sollen 1,6 Millionen neue Wohnungen entstehen, darunter 400.000 Sozialwohnungen. Angesichts 630.000 fehlender Wohnungen ist dies das absolut richtige Signal. Die Kalksandsteinindustrie steht bereit, um Länder und Kommunen bei der Schaffung von bezahlbarem und klimafreundlichem Wohnraum zu unterstützen. Vor dem Hintergrund anhaltender Materialknappheit und explodierender Rohstoffpreise wären wir sogar in der Lage, unsere Produktion weiter hochzufahren und damit die Lieferengpässe anderer Baustoffe kurzfristig auszugleichen.
Laut einer aktuellen Umfrage des ifo Instituts klagen 34 Prozent der Bauunternehmen über einen Mangel an Fachkräften. Wer also soll die 1,6 Millionen neuen Wohnungen in den nächsten vier Jahren eigentlich bauen? Damit diese Mammutaufgabe gelingt, sind schnelle und rationelle Bauweisen notwendig. Eine bewährte Lösung sind hierbei mittel- und großformatige, modulare Kalksandsteinsysteme, die trotz kostenoptimierter Standardisierung ein Maximum an Gestaltungsfreiheit ermöglichen. Die auf das jeweilige Projekt zugeschnittenen Kalksandsteine werden als fertiger Wandbausatz inklusive Verlegeplan just in time auf die Baustelle geliefert und dort mittels Versetzkran verbaut. Dies beschleunigt der Baufortschritt, erhöht die Ausführungsqualität und reduziert den Personalaufwand um bis zu 60 Prozent.
Die Bauwirtschaft ist für 30 Prozent der CO2-Emissionen, 40 Prozent des Energieverbrauchs und 50 Prozent des Abfallaufkommens verantwortlich. Diese Zahlen zeigen, welche Bedeutung die Branche für die Erreichung der Klimaziele hat. Deshalb ist es von der neuen Regierung nur folgerichtig, erstmals nach 23 Jahren wieder ein eigenes Bauministerium einzurichten. Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen, die es in diesem Bereich zu bewältigen gilt, sind gewaltig und verdienen einen eigenen Platz am Kabinettstisch.
Ein Blick in den Koalitionsvertrag stimmt zuversichtlich. Viele unserer Forderungen finden sich dort wieder. Wenn die entsprechenden Gesetze und Maßnahmen jetzt noch mit dem gleichen Tempo auf den Weg gebracht werden, dann wagt Deutschland im Sinne des Regierungsmottos endlich wirklich mehr Fortschritt!